Früher wie heute war der Bus das Transportmittel. Aber mit großem Unterschied: „Wir können aus dem Fenster schauen. Das ging für die Menschen damals nicht!“ Das stellten die Mitfahrenden schnell fest, denn die Erzählung, dass Menschen mit Behinderung in grauen Bussen mit überpinselten Scheiben ihre letzte Fahrt antreten mussten, hält sich in Scheuern und in der ganzen Region seit über 80 Jahren und wurde bei der anschließenden Führung in der ehemaligen sogenannten Landesheilanstalt in Hadamar entsprechend bestätigt. Über 10.500 Menschen mit Behinderung wurden so nach Hadamar gebracht und dort 1941 in der Gaskammer ermordet und weitere 4.500 Menschen starben in den Folgejahren bis 1945 an bewusster Mangelernährung oder durch absichtliche Überdosierung von Medikamenten. Wie konnte es dazu kommen?
Auf dem Weg zur Antwort auf diese Frage leitete Birgit Sucke, Mitarbeiterin der Gedenkstätte Hadamar, ihre Führung mit einigen Zitaten ein, die die Teilnehmenden in eine chronologische Reihenfolge bringen sollten. Daran wurde schnell deutlich, dass das menschenverachtende System der Nationalsozialisten gesellschaftlich tief verwurzelt war.
Erste Diskussion um den „Wert“ von Menschen und ihre vermeintlichen unterschiedlichen „Rassen“ finden sich spätestens im 19. Jahrhundert zunächst in wissenschaftlichen Kreisen, dann mit breiterer Streuung in der Bevölkerung. Pervertiert und auf die grausame Spitze getrieben endeten die sogenannte Rassehygiene und der Sozialdarwinismus im millionenfachen Mord an Juden, Homosexuellen, Sinti und Roma, politisch Andersdenkenden und vielen weiteren Bevölkerungsgruppen, die nicht ins System der Nationalsozialisten in Hitler-Deutschland passten. Darunter waren auch fast 1.500 Menschen, die zuvor in der Einrichtung in Scheuern wegen ihrer geistigen oder psychischen Beeinträchtigung oder einer Hirnschädigung wohnten oder dort für einige Zeit als Bewohner der sogenannten Zwischenanstalt auf staatlichen Befehl untergebracht waren.
Vorbereitet und begleitet wurden diese Gräuel von staatlich gesteuerter Propaganda, die die Ausstellung in den Räumen der Gedenkstätte ebenfalls bebildert und die damals beabsichtigte Wirkung verdeutlicht: Wenn nur stark, gesund und „verwertbare Arbeitsleistung“ in einer Gesellschaft als „wertvoll“ erachtet werden, dann können Menschen, die diesem Bild auf den ersten Blick nicht entsprechen, aussortiert werden. Aktuelle Parallelen aufgrund medialer Diskussionen unserer Zeit wurden von den Teilnehmenden identifiziert. Diese Parallelen bestimmen unterschwellig immer noch trotz der Anerkennung der Menschenrechte, der UN-Behindertenrechtskonvention und ihrem Ausfluss in nationale Gesetzgebung vielfach die gesellschafts-, bildungs- und sozialpolitische Diskussion wie sich auch am Beispiel der Äußerungen von beispielsweise Detlef Placzek, dem vormaligen Leiter des Landesamts für Soziales, Jugend und Versorgung in Rheinland-Pfalz ablesen lässt, oder auch an der von Kanzler Merz geplanten Überprüfung von Zuwendungen an Kommunen, den Kostenträgern der Eingliederungshilfe. Die Schwierigkeiten der geforderten gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderung an der Gesellschaft erfahren die mitgereisten Heilerziehungspfleger, Pädagogen und beruflich mit Menschen mit Beeinträchtigung Arbeitenden zusammen mit ihren Klient*innen täglich.
Nach dem Workshop schloss Birgit Sucke eine Führung an, die dem Weg der Ermordeten nachging: Der Bus fuhr in die Garage, von dort ging es durch einen Gang in den Raum der Aufnahme. Alles war so, wie es viele aus ihren Einrichtungen kannten, das Mitgebrachte und die Kleider notieren, wiegen, messen, auch die abschließende Untersuchung durch den Arzt. Dass dabei schon ein fingierter Todesgrund, mit dem man die Angehörigen informieren wollte, ersonnen wurde, wussten die Betroffenen allerdings nicht. Danach führte der Weg direkt in den Keller zur als Dusche getarnten Gaskammer. Der Arzt drehte den Gashahn auf und die Menschen erstickten in Hadamar an Kohlenmonoxyd. Ihre Leichname wurden auf einer speziellen Schleifspur zum Verbrennungsofen gezerrt und dort verbrannt oder im Nebenraum zuvor noch zu wissenschaftlichen Zwecken seziert. Die Asche, die teilweise den Angehörigen zugeschickt wurde, war mitnichten die persönliche Asche des angeblich Verstorbenen.
Meist kamen drei Busse pro Tag an, jeder mit ca. 20-30 Personen besetzt. Darunter waren auch die Busse, die wie die Gruppe der Fortbildungsteilnehmer im Hof der Stiftung Scheuern gestartet waren. Von vielen von ihnen sind die Akten, die in Scheuern zum Teil die Jahrzehnte überdauert haben, die letzte Spur. So wurden in Hadamar von Januar bis August 1941 über 10.500 Menschen umgebracht bevor diese Art der Vernichtung sogenannten „lebensunwerten Lebens“ endete und nach ein paar Monaten Pause per Giftmord oder Unterversorgung mit weiteren 4.500 Opfern fortgeführt wurde. Insgesamt fanden 15.000 Menschen in Hadamar den Tod.
An die Führung durch die Räumlichkeiten, die noch heute den perfiden und industriellen Geist der Massenvernichtung atmen, schloss sich ein Workshop für die Teilnehmer*innen der Exkursion aus Scheuern an, der die Einzelschickale näher beleuchtete. Die Gedenkstätte Hadamar sieht es als bleibende Aufgabe, den Ermordeten wieder eine Biografie und ihre Individualität zurückzugeben. Mit Memory-Boxen, also Erinnerungsschachteln gefüllt mit persönlichen Gegenständen, konnten sich die Teilnehmer*innen in Kleingruppen den ermordeten Menschen mit Behinderung nähern: hineinschauen und -fühlen, was sind das für Gegenstände, was sagen sie über den Menschen aus, dem sie gehörten? Schnell wurde klar, wie unterschiedlich und individuell die Schicksale der ermordeten Menschen waren und wie wenig der Einzelne im System des Nationalsozialismus galt. Genauso wurde der Gruppe bewusst, dass in Hadamar Menschen umgebracht wurden, die heute zu den Zielgruppen der Stiftung Scheuern gehören: Menschen mit geistiger Einschränkung, psychischer Erkrankung oder erworbener Hirnschädigung. Menschen wie Otto Curth, im Einsatz für die Kriegsberichterstattung einen Unfall hatte und dann als Soldat mit Hirnverletzung nicht mehr „nützlich“ war. Oder Günter Roderich Michel, der wegen seines Down-Syndroms, damals Mongoloismus genannt, dem staatlichen Schulsystem als bildungsunfähig galt, dessen Eltern sich aber von einer Unterbringung in einer Einrichtung wie Scheuern Förderung mit Aussicht auf Erfolg versprochen hatten und die sich intensiv um ihr Kind bemühten, es nicht „abschieben“, sondern eine Chance für ihr Kind wollten. Oder Horst Spieler, ein junger Mann aus schwierigen Verhältnissen mit herausforderndem Verhalten, der mit der einem jüdischen Elternteil und seiner psychischen Verfasstheit nicht als „gesellschaftsfähig“ angesehen wurde. Sie alle mussten sterben, weil ihrem Leben im Nationalsozialismus kein „Wert“ beigemessen, weil sie nur als „Kostenfaktor“ und „Ballastexistenzen“ wahrgenommen werden sollten.
So führte der letzte Weg im Rahmen der Führung die Exkursionsgruppe auf den Friedhof der damaligen Landesheilanstalt hinauf zu den Massengräbern der NS-Zeit, in denen die Opfer der Jahre 1943-45 bestattet wurden. Mahnend und auffordernd steht dort eine Stele mit der Inschrift „Mensch, achte den Menschen“.