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Inklusion - mehr als ein gut klingender Begriff?


Um die Inklusion, sprich das Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung, drehte sich die jüngste Runde des neuen Veranstaltungsformats „60 Minuten SPD“, zu dem die Sozialdemokraten ins Bistro Orgelpfeife der Stiftung Scheuern eingeladen hatten.

Häufig verwendet, nicht selten aber missverstanden und vor allen Dingen längst nicht immer in die Realität umgesetzt: Um die Inklusion, sprich das Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung, drehte sich die jüngste Runde des neuen Veranstaltungsformats „60 Minuten SPD“, zu dem die Sozialdemokraten mit ihrem Kreisvorsitzenden Mike Weiland, der Ersten  Kreisbeigeordneten Gisela Bertram und der Vorsitzenden des  Gemeindeverbands Bad Ems-Nassau,  Marlene Meyer, ins Bistro Orgelpfeife der Stiftung Scheuern eingeladen hatten. Neben der zeitlichen Begrenzung auf exakt 60 Minuten bestehe ein Vorteil der Veranstaltungsreihe darin, dass die Politik den Praktikern zuhöre, betonte Mike Weiland eingangs – und hatte damit auch schon die Überleitung zum Referenten und Impulsgeber geschaffen. Pfarrer Gerd Biesgen, Vorstand der Stiftung Scheuern, stieg mit einem kurzen historischen Abriss ins Geschehen ein und betonte, der Grundgedanke der 2007 eingeführten UN-Behindertenrechtskonvention sei es, das zwischen „behindert“ und „normal“ trennende Schubladen-Denken, das sich leider als sehr langlebig erweise, irgendwann einmal zu überwinden und damit letzten Endes Einrichtungen der Behindertenhilfe als Sonderwelten überflüssig zu machen. Doch wie ist es im Hier und Jetzt um die Inklusion bestellt? „Schon mehrfach haben wir die Hand ausgestreckt, damit unsere Bewohner gemeinsam mit den Bürgern von Bergnassau-Scheuern gelingend etwas tun“, sagte Biesgen und nannte hier beispielhaft die im vergangenen Herbst eingeweihte Boulebahn im Park der Stiftung Scheuern, die auch Besuchern von außerhalb jederzeit offensteht. Und: „Bei bisher zwei Veranstaltungen zur Dorfmoderation Bergnassau-Scheuern haben wir überlegt, ob wir gemeinsam Dinge auflegen können.“ Denn zur Inklusion, zur Aufhebung der Trennlinie zwischen Menschen mit und ohne Behinderung, tragen zweifellos auch bauliche Veränderungen bei. In diese Richtung zielende Verhandlungen mit dem Land würden sich teilweise schwierig gestalten, so Biesgen. Doch man sei froh, mit Landrat Frank Puchtler jemanden im Stiftungsrat zu haben, der dem Thema gegenüber aufgeschlossen ist.

Um die baulichen Gegebenheiten drehte sich auch der erste Beitrag der anschließenden, sehr regen und engagiert geführten Diskussion. Das Gelände der Stiftung Scheuern sei zwar nicht mehr wie früher von einem Gitter umschlossen, sagte ein Teilnehmer: „Aber einige der Gebäude wirken wie ein Riegel, sodass das Gelände nicht als offenes Wohngebiet empfunden wird. Solche Schranken zu überwinden, ist nicht einfach.“ Peu à peu sei es dennoch möglich, erwiderte Biesgen. „Wir wollen, dass dieses Gebilde sich im Sinn der Menschen hier verändert und teilweise auflöst“, sagte er und verwies auch auf das vor rund zehn Jahren von der Stiftung Scheuern gestartete Projekt der Dezentralisierung, sprich des Schaffens von Wohnraum für Menschen mit Behinderung inmitten von Städten und Gemeinden. Aber natürlich spielt sich Inklusion auch auf unzähligen anderen Ebenen ab. Zum Beispiel in der Arbeitswelt: „Wir kooperieren mit mehreren Betrieben, die den von uns betreuten Menschen Außenarbeitsplätze zur Verfügung stellen, weil sie erkannt haben, dass es für beide Seiten gewinnbringend ist, anstelle vorhandener Defizite die Potenziale zu sehen und diese zu fördern“, so Biesgen.

Auch wenn noch längst nicht alles, was wünschenswert wäre, erreicht ist: Vieles hat sich, was die Teilhabe an der Gesellschaft betrifft, in den vergangenen Jahrzehnten bereits getan. „Das verändert nicht nur unsere Bewohner und Beschäftigten, sondern auch uns“, betonte eine Mitarbeiterin der Stiftung Scheuern. „Da es immer weniger Menschen gibt, die mit schweren Behinderungen zur Welt kommen, betreuen wir vermehrt Personen, die in Teilbereichen Assistenz brauchen. Diese Menschen verhandeln auf Augenhöhe mit uns und sagen uns, welche Ansprüche und Erwartungen sie haben – und das ist auch sehr gut so.“ Allerdings: Man müsse sich auch fragen, wie viel Inklusion jemand im Einzelfall überhaupt vertrage, lautete ein Einwand: „Manche Menschen mit Behinderung brauchen einen geschützten Raum, das heißt eine konstante Umgebung mit festen Bezugspersonen. Jeder Reiz, der dazukommt, kann sie verunsichern. Dann sollte dieser geschützte Raum in würdiger Form erhalten bleiben.“

Unmöglich, an dieser Stelle auf all die Diskussionsbeiträge der insgesamt rund 40 Veranstaltungsteilnehmer einzugehen. Nur so viel vielleicht noch: Gleich mehrfach fiel das Wort „Leistungsgesellschaft“. Sicher, die Stiftung Scheuern ist nicht zuletzt auch ein Wirtschaftsunternehmen, das es Menschen mit Behinderung ermöglicht, sich mit ihren Fähigkeiten einzubringen und auf diese Weise Selbstbewusstsein zu entwickeln, wie eine Teilnehmerin betonte. Aber, so ein weiterer Besucher: „In der kapitalistischen Gesellschaft gilt nur derjenige, der am Produktionsprozess teilnehmen kann, als gesund. Doch der Mensch ist an und für sich ein Wert.“ Die Gefahr, dass bestimmte Personengruppen, übrigens nicht nur Menschen mit Behinderung, gesellschaftlich an den Rand gedrängt würden, sei gewachsen, bestätigte auch Gerd Biesgen: „Nach wie vor muss sich die Humanität einer Gesellschaft aber daran messen lassen, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht.“

Viel Stoff zum Nachdenken war es also, der in diese 60 Minuten passte. Als Mike Weilands Handy-Wecker schließlich klingelte, gab es noch „Hausaufgaben“. Für die Stiftung Scheuern, die baulichen Maßnahmen für mehr Barrierefreiheit voranzutreiben. Und für die anwesenden Politiker, das Thema Inklusion noch mehr als bisher in die politischen Gremien hineinzutragen.