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"Wir hatten unser Auschwitz direkt vor der Haustür"


Gedenkfahrt für die Opfer des Nationalsozialismus von Scheuern nach Hadamar

Am 19. Juli 2014 brachen 24 Menschen mit und ohne Behinderung vom Nassauer Ortsteil Scheuern auf zu einer Gedenkfahrt nach Hadamar. Im Zentrum dieses Gedenkens standen die Opfer des Nationalsozialismus, insbesondere Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung umgebracht wurden. Darunter waren auch 1500 Opfer aus der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Scheuern, die in der Zeit von 1941 bis 1943 als sogenannte Zwischenanstalt diente. Pfarrer Matthias Metzmacher, Inhaber der Profilstelle für Gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche an Rhein und Lahn, leitete die Fahrt vom Denkmal "Damit wir nicht vergessen" der Stiftung Scheuern zur Gedenkstätte Hadamar.

Die Teilnehmer der Fahrt hatten unterschiedlichste Beweggründe, warum sie sich mit dem Thema auseinandersetzten. Manche interessierten sich für ein Stück regionaler und gleichzeitig weltweit bedeutender Geschichte, andere wie Erwin Hennemann, suchten nach Spuren ihrer Verwandten und wieder andere fühlen sich persönlich betroffen wie Walter Moll, selbst jemand, der mit Behinderung lebt.

"Lebensunwert"

Am Mahnmal der Stifung Scheuern, das seit über 14 Jahren die Erinnerung an die Opfer des NS-Regimes wachhält, erläuterte der ehemaligen Direktor der Stiftung Scheuern, Pfarrer Eckhard Bahlmann, wie ab 1937 aus der damaligen Anstalt Scheuern eine sogenannte Zwischenanstalt wurde als letzte Station vor der Tötungsanstalt Hadamar. Denn während der Zeit des Nationalsozialismus wurden neben den Juden auch andere Bevölkerungsgruppen verfolgt und in Konzentrationslagern getötet. Unter Berufung auf die sogenannte Lehre von der Rassenhygiene wurden behinderte Menschen als "lebensunwert" betrachtet. So wurden auch Menschen aus Scheuern mit "den grauen Bussen" nach Hadamar gebracht und dort mittels Gas ermordet. Durch die dadurch in Scheuern frei gewordenen Räumlichkeiten war es möglich, die Einrichtung zu einer Zwischenanstalt für behinderte Menschen aus anderen Teilen des deutschen Reichs umzufunktionieren.

Die 79-jährige Lore Arnold hat als Kind die Vorgänge auf dem Gelände der Scheuerner Einrichtung miterlebt und noch heute packt sie die Angst: "Ich kann mich erinnern, wie der Bus vor's Haus kam. Anfangs wusste ich nicht, was passiert, ich dachte, die fahren in die Ferien. Aber sie durften sich nicht verabschieden." Schnell war ihr klar, dass sie hier nichts Gutes miterlebte. 28 Menschen, die schon auf der Todesliste standen, konnten gerettet werden. Um wenigstens einige Menschen retten zu können, wurden einige Wenige und die Kinder teilweise nach Hause geschickt. Für viele Menschen jedoch gelang keine Flucht. Insgesamt wurden nahezu 1500 Menschen von Scheuern aus in Tötungsanstalten gebracht. Die meisten davon nach Hadamar.

"Hätten wir damals gelebt, wären wir auch dabei gewesen."

In der Gedenkstätte Hadamar sind die letzten Stunden der Opfer noch heute auf bedrückende Weise nachvollziehbar. Die Gruppe folgte im Rahmen einer Führung den Spuren der Opfer über die Ankunft in der noch erhaltenen Busbaracke, zum Auskleideraum bis hinunter in den Keller zur Gaskammer und den Verbrennungsöfen. Ein Weg, der jeden erschütterte. Judith Zins-Bechstedt schildert ihre Eindrücke: "Die Enge des Raums, so viele Leute in einem Raum, es ist unvorstellbar. Man fühlt sich in dem Keller in die Zeit zurückversetzt. Man kann den Tod riechen und die Bilder von der Schleifbahn für die Leichen lassen mich nicht los." "Wir hatten unser Auschwitz direkt vor der Haustür", stellt Erwin Hennemann mit Entsetzen fest. Seine Tante fand ebenfalls in Hadamar den Tod. Auch Walter Moll, der aufgrund einer Behinderung selbst auf Betreuung angewiesen ist, schluckt und sieht der damaligen Realität ins Auge: "Hätten wir damals gelebt, wären wir auch dabei gewesen."

Ingelore Rheingans ist schon mehrfach bei der Gedenkfahrt dabei gewesen. Sie sagt: "Ich kann nicht mehr in den Keller. Ich war da schon, aber ich kriege keine Luft. Trotzdem will ich sie nicht vergessen. Ich gehe dann auf den Friedhof." Angesichts der schrecklichen Morde hat die Inschrift auf dem Gedenkstein des Friedhofs an der ehemaligen Landesheilanstalt Hadamar für Vergangenheit und ganz besonders auch für die Zukunft immense Bedeutung: "Mensch, achte den Menschen."

"Mensch, achte den Menschen."

Bahlmann und Metzmacher mahnten, niemals dürfe der "Wert" von Menschen bestimmt werden. Gerade auch in heutigen Zeiten, in denen fast alles ökonomischen Zwängen unterliege, dürfe nicht von der Achtung vor dem Leben und von der Unanstastbarkeit der Menschwürde abgelassen werden. Erwin Hennemann kann dem nach den Erkenntnissen, die er über das Schicksal seiner Tante gewonnen hat, nur zustimmen. "Es ist und bleibt unserer aller Aufgabe, die Ermordeten nicht zu vergessen!"