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Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Vernetzung


Was brauchen Menschen mit erworbener Hirnschädigung? Um diese Frage drehte sich jüngst eine Fachveranstaltung, die unter der Überschrift „Neurokompetenz für Entscheider in sozialen Sicherungssystemen“ im Koblenzer Rathaus stattfand.

Dorthin hatten die Neuronetzwerke Rhein-Ahr-Eifel aus Bad Neuenahr-Ahrweiler und Rhein-Lahn aus Nassau eingeladen, die Organisation übernahm die Stiftung Scheuern aus Nassau. Die rund 30 Teilnehmenden kamen aus ganz Rheinland-Pfalz. Bei den meisten von ihnen handelte es sich um Mitarbeitende von Kreis- und Stadtverwaltungen, Einrichtungen der Eingliederungshilfe, sozialen Fachdiensten oder Beratungsstellen.

Wie wichtig das Thema ist, spiegeln folgende Fakten wider: In Rheinland-Pfalz erleiden pro Jahr etwa 3500 Menschen schwere oder schwerste Hirnschädigungen durch Schädel-Hirn-Traumata, Schlaganfälle, Multiple Sklerose, Parkinson oder andere neurologische Erkrankungen. Paradoxerweise nimmt die Zahl der Betroffenen trotz der Erfolge der Medizin eher zu als ab.

Das Eingangsreferat hielt der Neurologe und frühere Leiter des Rehazentrums NeuroTherapie RheinAhr in Bad Neuenahr-Ahrweiler, Dr. Paul Reuther, der sich insgesamt seit 2006 und ehrenamtlich seit seinem Eintritt in den Ruhestand 2017 dafür einsetzt, das Angebot der ambulanten neurologischen Rehabilitation auszubauen sowie die wohnortnahe Nachsorge und Teilhabe für Menschen mit erworbener Hirnschädigung gesundheits- und sozialpolitisch voranzubringen. „Wegen der oftmals auf den ersten Blick nicht erkennbaren Spätfolgen wird es immer wichtiger, notwendige Hilfen und Maßnahmen auch nach Abschluss der ersten klinischen Rehabilitation im Blick zu behalten und zu organisieren. Dabei sind insbesondere die Beschwerden der Betroffenen zu beachten und rehabilitative Bedarfe im medizinischen und sozialen Bereich regelmäßig zu überprüfen und anzupassen“, betonte Reuther und fügte im nächsten Atemzug hinzu: „Leider geschieht dies viel zu selten. Viele der Betroffenen und ihre Angehörigen bleiben erheblich unterversorgt, sozialbehindert und gefährdet.“ Die Bedarfsermittlung müsse so umfassend wie möglich und die Leistungsentscheidung ohne Umwege geschehen. Basis dessen sei eine verbindliche Teilhabeplanung, die den komplexen Hilfebedarf berücksichtigt und für eine hohe Qualität der durchgeführten Leistungen sorgt. Aber, so der Referent: „Vom Instrument der Teilhabeplanung wird bislang zu wenig Gebrauch gemacht.“

Über die sogenannte ICF-Klassifikation (ICF steht für International Classification of Functioning, Disability and Health), die tiefergehende Erkenntnisse über die Auswirkungen einer Hirnschädigung ermöglicht, sprach die Sozialpädagogin und Case Managerin Barbara Börkel vom Rehazentrum NeuroTherapie RheinAhr. ICF-gestützte Bedarfsermittlungen geben umfassend Aufschluss über den Gesundheitszustand eines Menschen und die Funktionsstörungen, unter denen er leidet. Das Bewusstsein von der Bedeutung ICF-orientierter Informationen habe sich in der Praxis noch nicht vollständig durchgesetzt, bedauerte Barbara Börkel: „Entscheider benötigen oftmals die Hilfe anderer neurokompetenter Akteure. Doch wo kommt diese her? Was ist, wenn man als Entscheider nicht weiterkommt und wichtige Informationen fehlen? Häufig bleibt dann nichts anderes übrig, als sich die Bedarfe ganz genau anzuschauen und zusätzlich auf Biografiearbeit zu setzen.“ Für die Zukunft liege ein Schlüssel zum Erfolg in einer guten, dauerhaften Zusammenarbeit und Vernetzung zwischen Fachleuten unterschiedlicher Disziplinen und der Verwaltung.

Auf die Leistungen zur Bedarfsdeckung ging Thomas Schmitt-Schäfer, Geschäftsinhaber von transfer, einem Unternehmen für soziale Innovation aus Wittlich, ein. Schmitt-Schäfer, der selbst jahrelang in der neurologischen Reha tätig war, erläuterte anhand zahlreicher praktischer Beispiele die Abgrenzung zwischen Eingliederungshilfe, Pflege und nachsorgender medizinischer und rehabilitativer Leistungen. „Über die Leistungen wird anhand dessen entschieden, was im System der medizinischen Reha durchgeführt werden soll“, so der Referent, der allerdings die Meinung vertritt, dass „im Kontext der sozialen Reha alles möglich ist, wenn man nur will“. Er sprach den Entscheidern Mut zu, ihren Handlungsspielraum auszuschöpfen und Leistungssysteme durchlässiger zu gestalten.

Den juristischen Sachverstand brachte Oliver Totter, Rechtsanwalt der Lebenshilfe Nordrhein-Westfalen, ein. Er nahm den sozialrechtlichen Rahmen der Leistungsgewährung und die Zusammenarbeit zwischen mehreren Trägern in den Blick, fasste den rechtlichen Ausgangspunkt der UN-Behindertenrechtskonvention zusammen und beschrieb die Systematik des Bundesteilhabegesetzes sowie die Gesamtplan- und Teilhabeverfahren, die die Träger von Sozialleistungen fristgerecht führen müssen.

Eva-Maria Kessler, ebenfalls von transfer, moderierte den Abschluss der Fachveranstaltung. „Bewusstseinsbildung, Wissensaustausch und überregionale Vernetzung kommen auch Entscheidern zugute“, resümierte sie. „Sie befähigen sie dazu, ausgewogen zu handeln, damit sie den Menschen diejenigen Hilfen gewähren können, die diese tatsächlich brauchen.“